„Ablak-Zsiráf war ein Bilderbuch, aus dem wir das Lesen lernten, als wir noch nicht lesen konnten.“[1]
Evolutionär besteht zwischen Mensch und Tier keine fundamentale Grenze. Fundamentalistisch ist es daher eher Mensch vom Tier radikal verschieden, auf einer anderen oder gar höheren Ebene anzusiedeln.[2] Diese Hybris hat verschiedene Ausdruckformen, die unser Koordinatensystem aufspannen, dem wir Beobachtungen unterlegen und Urteile daraus ableiten. In Gestalt des Rationalismus sagt sie, nur der Mensch sei vernunftbegabt, in Gestalt der vor allem abrahamitischen Religionen sagt sie, nur der Mensch habe eine Seele.
Was die Kunst von Sylvia Pásztor sagt, ist, dass von Menschen und Tieren hier keine Rede sein kann. Nur von Kreaturen. Umgangssprachlich oft leicht abwertend verwendet oder gleichgesetzt mit grotesken Gestalten, sei mit Kreatur hier vielmehr das verbindende Element betont. Kreatur – das, was geschaffen wurde, das Ge-Schöpf, aus dem Brunnen des Lebens.
Die Kunst hat hier keine Aufgabe, Philosophie zu betreiben. Aber: sie kann unseren Beobachtungshorizont verschieben und vor Urteilen zurückhalten. Was Sylvia Pásztor treibt, ist dieses Ur-Sprüngliche, das Hervorgehende, Hervortretende, das was sich bewegt und uns bewegt, was gesehen werden will, was gezeichnet werden will. Und zwar: von Ihr! Und zwar ohne zugleich zum Zeichen, Abbild oder zur Chiffre für etwas anderes zu werden. Mythen interessieren sie in ihrem Impuls ebenso wenig wie vordergründige kulturelle Referenzen; insofern diese auftauchen, dann tun sie es, weil sie gleichsam auf der Hand liegen. Sie will nicht Erkenntnis vorführen, sondern verfolgt das ‚Was‘ in der Formschöpfung mehr denn das ‚Wie‘ oder das ‚Warum‘: „Ich spüre große Schaulust bei den Kreaturen, die Entstehung und Vergehung derer wie auch die jeweilige Momentaufnahme. Ich halte mich wie die Tiere im Moment auf, deswegen sehe ich meine Arbeit als ein großes ernstes Spiel an, ohne politischen, gesellschaftlichen Kontext, nur Form, Ästhetik, Selektion, Neukreation, Neuinterpretation…“
[1] Péter Zilahy, Die letzte Fenstergiraffe. Ein Revolutionsalphabet ab fünf Jahre, Frankfurt a.M. 2004, S. 7.
[2] Das schärfste Plädoyer dafür bei John Gray, Straw Dogs. Thoughts on Humans and Other Animals, London 2002.
Was sie zur Kreatur bringt, was umgekehrt Kreaturen ihr so nahebringt, ist der eigentliche künstlerische Impuls der Kreativität, das ewig alte und immer wieder neue Schaffensspiel der Formen. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt dabei im Bereich der Grafik und Handzeichnung. Der Bildträger ist meist Papier, Pappe oder Holz. Auch Wandflächen im Innen- wie auch im Außenraum fordern sie heraus. Arbeitsmittel wie Tusche, Acrylfarben und Bleistift formulieren die Linie. Die Farbe füllt Bildräume: „Materialien reize ich aus und verschiebe dabei Bedeutungsebenen. Das Unwichtige wird zum Wichtigen, das Hässliche zum Schönen, das Unscheinbare zum Gesehenen.“
Ein berühmtes Kinderbuch in Ungarn ist das „Ablak-Zsiráf“, auf Deutsch „Fenstergiraffe“, das als Enzyklopädie von A bis Z Kindern die Welt zeigt. Man kann sich Sylvia Pásztor als glücklichen Menschen vorstellen, die ihr eigenes Lexikon – von Affe bis Zebra – zeichnet. Sie ist eine Augensammlerin: von Situationen, Blickwinkeln, Details, die sie auf Papier bannt, als wäre das Zeichnen, der körperliche, sinnliche, vor-rationale Prozess selbst der eigentliche Zweck. In ihrer Arbeitsweise beobachtet und zeichnet sie regelmäßig vor der „Natur“, um der Materie formal möglichst nah zu sein. Dabei spielt die sie unmittelbar umgebende Umwelt, in der es Tiere aller Art wie Menschen gibt, eine entscheidende Rolle.
Biographisch wichtig war für sie dafür ein Studienjahr an der Magyar Képzőművészeti Egyetem in Budapest, wo ein Skizzentagebuch als Katalysator für das Erlebte fungierte. Folgende Jahre führten sie nicht nur in Anatomiesäle als Studienort und Begegnungsstätte mit der Leiblichkeit und Kreatürlichkeit des Menschen. Mehrfach zog es sie in die ungarische Puszta. Das Mitziehen, Mitleben mit den Przewalski-Pferden, den letzten Wildpferden dieser Erde, die in einer großen Herde im Wildtierpark Hortobágy und im Wildpferd-Reservat Pentezug ohne das Nähe erzwingende Gitter des Zoos zu bestaunen sind, bleibt für sie ein mentales wie bildliches Reservoir ebenso wie für Fragen, die letztlich für sie nur künstlerisch zu lösen sind. Eine Frage, die sie beschäftigt, ist, inwiefern ein Tier autonom bleibt, wenn es doch in Kontakt mit den Menschen kommt. Das Gleiche gilt für die Natur des einzelnen Menschen, inwieweit das sogenannte Tierische in der menschlichen Natur bestehen bleibt, wenn dieser mit dem „Fremdling“ Tier konfrontiert wird. „Die Reduktion hilft mir dabei, das Wesentliche zu sehen und zu verarbeiten.“
Unser Blick auf Bilder hat sich im letzten Jahrhundert dadurch verändert, dass wir die fotografischen Vorlagen von Bildern gleichsam als ein Palimpsest mitgeliefert bekommen, es gerade zu suchen und es Teil unserer Erwartungshaltung von Kunst wird, die Spur zu erkennen.[3] Hier suchen wir es vergebens und werden eher dazu verleitet, etwas Unfertiges, oder positiver: etwas Unmittelbares vorzufinden. Wir müssen nicht nach Vorlagen und Anspielungen suchen, weil wir als Betrachter mit der Künstlerin neu anfangen können und die Linien vom Objekt zum Papier zum Auge ziehen.
Ihre Arbeiten bewegen sich zwischen der Unmittelbarkeit des Erlebten und der Verarbeitung im Atelier. Die Direktheit und die Unvermitteltheit der Zeichnungen sind dabei einen Prozess der Rekonstruktion durchlaufen. Die Bilder sind im Atelier entstanden, also nachträglich erzeugte Unmittelbarkeit. Zugleich ist das Zeichnen für sie ein Halten, ein inneres Halten vor den Dingen, das zur Beobachtung wird und ein Halt für sich selbst. Sie erlaubt sich dabei, am Probieren festzuhalten, setzt an einzelnen sich wiederholenden Elementen an, Formen, Striche, Bewegungen. Zeichnen als Handeln zu verstehen, heißt: zu zeichnen zu beginnen, um die Form zu finden – „eine Mischung aus Machen und sehen“, wie es William Kentridge ausdrückt.[4]
Die Wahl des Materials, das Papier, Kohle, Tusche, Acryl, Bleistift geben diesen Qualitäten ihre Gestalt. Die Zeichnung ist die Behauptung der Künstlerin, die Bewegung der Beobachtung festhalten zu können, das Vorübergehende als solches zu zeigen. Das Flüchtige wird manifest und anschaulich als Flüchtiges. Sicher, nicht alles, was wir sehen, verarbeiten wir als Bild. Aber: wir erkennen visuellen Darstellungen jeder Art gerade über den immanenten Zeichencharakter die Eigenschaft als Bild zu.
[3] Vgl. Susan Sontag, On Photography (1977).
[4] William Kentridge, Sechs Zeichenstunden. The Charles Eliot Norton Lectures 2012, Köln 2016, S. 22.
Ohne Zeichen kein Bild. Denn letztlich ist die Linie nur als mathematisches Abstraktum etwas anderes als eine Fläche. Jeder Punkt auf Papier ist schon eine Entfaltung, eine Ausbreitung. Jeder Strich schafft eine Differenz und öffnet Räume, über deren Durchlässigkeit und zugleich Fähigkeit, etwas einzufangen das Gesamtbild entscheidet, wobei es für das Werk spricht, wenn die Frage, was das Gesamtbild ist, wo der Rahmen gezogen ist – sind wir als Betrachter vielleicht Teil davon? – unbeantwortet, unabgeschlossen bleibt. Als reproduzierte, also wieder hervor geholte Wahrnehmung entfaltet sich die Wirkung beim Künstler zeitlich versetzt.[5] Man könnte das auch als Überprüfung der Komplexitätspassung bezeichnen: das ist der Moment, wo wir auf andere Medien zurückgreifen, um die Komplexität eines Kunstwerks und die Komplexität der Umwelt des Betrachters zusammenzubringen, Irritationen und produktives Scheitern inbegriffen. Ebenso fordern uns Sylvia Pásztors Zeichnungen auf, die Linien – außerhalb ihrer selbst – fortzusetzen. Die Zeichnung folgt damit stärker als Malerei einer Logik des Unscharfen (M. Serres).
Die Welt ist voller Zeichen in zeichnerischer Gestalt. Wir begegnen in der Welt Strichen und Linien in unendlichen Formen: Als Dachrinne, Tischkante, als Zweig, als Schatten, als Hosensaum, als Horizont. Das Spiel der Entschlüsselung, das Momentum der Teilhabe durch das Verstehen, das Wieder-Erkennen geht in beide Richtungen, von der Welt zum Bild und zurück, ein Verweisspiel der Zeichen und wir sind die Medien. Es ergibt sich aber keine logische Taxonomie daraus, kein System, da die Variablen von Kunstwerk, Betrachter und Umwelt jeweils anders sind: „Jede Zeichnung wuchert, setzt eine Anzahl von Entsprechungen, ein Netzwerk von Äquivalenzen frei, entfesselt den Austausch zwischen Leblosem und Lebendigem, Nahem und Fernem, Winzigem und Unermesslichem.“[6]
Das hier angesprochene Wuchern bricht sich verstärkt Bahn in Gestalt von Wandbildern, wo das Unabgeschlossene in die Welt hinausweist. Das Wachstum in den Raum und diese Ambivalenz oder Doppelwandigkeit muraler Kunst, dass ausgerechnet Mauern für eine künstlerische Öffnung stehen, interessiert Sylvia Pásztor in den letzten Jahren immer deutlicher.
Wir leben nach wie vor in der Epoche einer ‚Privilegierung des Visuellen‘ (McLuhan)[7] ; zugleich steht die Ablösung durch etwas anderes bereits bevor, das Text/Bild/Zeichen/Code zu einer neuen diagrammatischen Form verbindet und das mit dem ‚Digitalen‘ sicher nur unzureichend beschrieben ist. Zudem ist es ein unbeholfener Begriff, wenn digitalis noch immer – den sprachlichen Engpässen folgend – auf das taktile, den Finger, zurückweist. In dieser epistemologischen Situation weist die Zeichnung als kulturelle Praxis gleichzeitig vor und zurück. Sie spannt geradezu enzyklopädisch den Bogen von den Höhlen von Lascaux zu den Bauzeichnungen mit Auto-CAD, die Sgrafitti aus Pompeij unterscheidet technisch (der Stift/die Dose in der Hand – das Bild an der Wand) fast nichts von den Graffiti auf Eisenbahncontainern. Medientechnisch steht die Zeichnung damit ganz am Anfang menschlichen Ausdrucksvermögens und hat seitdem nicht aufgehört, es uns zur Aufgabe zu machen, die Zeichen in der Höhle und die Zeichen der Welt in Linien durch unseren Kopf laufen zu lassen.
Und mit einem Lächeln darüber, wie viele Worte notwendig waren, um etwas so Einfaches zu sagen, dass die Zeichnung wirksam ist, präsentiert Sylvia Pásztor uns hier Ihr eigenes Ablak-Zsiráf, und wir lernen von Affe bis Zebra neu sehen, was schon immer da war.
[5] Vgl. Elaine Scarry, Dreaming by the book, New York 1999, S. 6 und das Kapitel ‘On Solidity’, S. 10-30.
[6] Kentridge, Sechs Zeichenstunden.
[7] Siehe Manfred Faßler, Bildlichkeit. Navigationen durch das Repertoire der Sichtbarkeit, Köln u.a. 2002, S. 36f.
Dr.Eric Piltz